Diese Frage kann auch vor dem Hintergrund der im Rahmen der Corona-Krise durch die spanische Regierung erlassenen Bestimmungen bejaht werden.
1. In diesem Zusammenhang ist zum einen das Königliche Dekret (Real Decreto) 463/2020, vom 14. März („RD“) zu nennen, auf dessen Grundlage der sog. Alarmzustand in Spanien ausgerufen und Regelungen zur Einschränkung der Freizügigkeit von Personen und Vornahmen bestimmter Aktivitäten verabschiedet wurden, wobei Artikel 7 RD den Weg zum Arbeitsplatz zur Durchführung der „beruflichen oder geschäftlichen Arbeitsleistung“ ausdrücklich von den Beschränkungen ausnimmt.
Neben dieser sehr allgemein formulierten Ausnahme, unter die sich bereits die Ausübung des Amtes als Mitglied des Verwaltungsorgans einer spanischen Gesellschaft fassen ließe, wurden auf Grundlage des Königlichen Gesetzesdekrets (Real Decreto-ley) 8/2020, vom 17. März („RDL“), das als Ausführungsverordnung der Regelungen des RD dient, explizite Bestimmungen bezüglich der Durchführung von Beschlüssen der Verwaltungsorgane spanischer Gesellschaften festgelegt. Das RDL schweigt jedoch im Hinblick auf die Abhaltung von Gesellschafterversammlungen.
Es ist jedoch offensichtlich, dass die Gesellschafter einer Handelsgesellschaft über dieselben Möglichkeiten zur Beschlussfassung verfügen müssen, um die für das Unternehmen während des Alarmzustandes notwendigen Entscheidungen treffen zu können. Auf welche Weise sollten anderenfalls Beschlüsse getroffen werden, die Änderungen im Verwaltungsorgan betreffen, wie z.B. die Abberufung und Neuernennung von Geschäftsführern (wie soll die Gesellschaft handeln, wenn der Alleinverwalter der Gesellschaft aufgrund des Coronavirus längerfristig verhindert ist und die Gesellschaft Hilfsleistungen der Regierung in Anspruch nehmen und beantragen will), oder auch die Genehmigung von Rechtsgeschäften im Hinblick auf wesentliche Aktiva (sog. bienes esenciales) der Gesellschaft gemäß Art. 160 des spanischen Kapitalgesellschaftsgesetzes (Ley de Sociedades de Capital – „LSC“)?
Es ist nicht denkbar, dass außergewöhnliche Formen der Beschlussfassung in Zeiten der Corona-Krise dem Verwaltungsorgan einer Gesellschaft vorbehalten sein sollen, aber nicht für das oberste Entscheidungsgremium einer Gesellschaft gelten.
2. Die Verwendung des im RDL verwendeten Begriffs „Leitungsorgan“ (órgano de gobierno) mag verwirrend erscheinen und den Anschein erwecken, dass dieser mit dem Begriff „Verwaltungsorgan“ (órgano de administración), in Anspielung auf andere juristische Personen des Privatrechts, die nicht Kapitalgesellschaften sind, gleichzusetzen ist. Dieser Schlussfolgerung können wir jedoch nicht zustimmen.
Die Gesellschafterversammlung ist – im Rahmen der ihr gesetzlich eingeräumten Befugnisse – in gleicher Weise für die Führung einer Gesellschaft verantwortlich wie das eigentliche Verwaltungsorgan. Beide sind Organe der Gesellschaft (Leitungs- und Entscheidungsorgane), wobei jedes von ihnen die Gesellschaft innerhalb der gesetzlich festgelegten Richtlinien leitet und die diesbezüglichen Entscheidungen trifft.
Auch bezüglich börsennotierter Gesellschaften bezieht sich das RDL in Artikel 41 auf den Begriff „Leitungsorgan“ (órganos de gobierno). Unter Auslegung dieses Artikels (insbesondere Artikel 41.1 Abschnitt b) gelangen wir allerdings zu dem Ergebnis, dass die entsprechende Definition des Leitungsorgans sowohl das Verwaltungsorgan (órgano de administración) als auch die Gesellschafterversammlung einschließt.
Weiterhin wird auch in der Präambel des Gesetzes 31/2014, vom 3. Dezember, festgelegt, dass „ein grundlegender Aspekt für das ordnungsgemäße Funktionieren der Gesellschaften und für ein angemessenes Gleichgewicht zwischen ihren Leitungsorganen die Regelung …“ ist. Anschließend werden im Gesetz Fragen sowohl für die Gesellschafterversammlung als auch für das Verwaltungsorgan geregelt. Daraus ist zu schließen, dass sich der Begriff „Leitungsorgane“ (órganos de gobierno) sowohl auf die Gesellschafterversammlung als auch auf das Verwaltungsorgan bezieht.
3. Bezüglich der praktischen Durchführung von Sitzungen der Gesellschafterversammlungen per Videokonferenz trifft das LSC ausdrückliche Regelungen für die spanische Aktiengesellschaft (sociedad anónima), schweigt jedoch bezüglich der Frage, ob diese Regelungen ebenso auf die spanische Gesellschaft mit beschränkter Haftung (sociedad limitada) Anwendung finden. Die Generaldirektion der Register und Notariate (Dirección General de los Registros y del Notariado – „DGRN“) hat in einer Entscheidung vom 19. Dezember 2012 festgestellt, dass Gesellschaften mit beschränkter Haftung im Falle des Vorliegens einer entsprechenden Regelung in der Gesellschaftssatzung ihre Gesellschafterversammlungen auf telematischem Weg abhalten können. Das gleiche Prinzip wird im Hinblick auf Gesellschafterversammlungen von Gesellschaften mit beschränkter Haftung auch im Zusammenhang mit Fragen wie der vorweggenommenen Stimmabgabe aus der Ferne, der Übertragung des Stimmrechts im Rahmen der telematischen Stimmabgabe sowie der Abgabe der telematischen Stimmabgabe ohne Unterschriftsbeglaubigung und ohne elektronische Signatur angewendet.
Zusätzlich wird auch in der herrschenden Lehre klargestellt, dass unter Anwendung von Artikel 28 LSC bezüglich Gesellschaften mit beschränkter Haftung in den Satzungen die Abhaltung von Gesellschafterversammlungen unter Verwendung telematischer Mittel geregelt werden kann, sofern die Gesetze und „die Prinzipien, die der gewählten Gesellschaftsform entsprechen“ nicht verletzt werden.
Auch im Zusammenhang mit der Annahme von Beschlüssen auf schriftlichem Weg und ohne „physische“ Sitzung der Gesellschafterversammlung sind einige Autoren der Meinung, dass diese Möglichkeit bereits im Gesetz angelegt sei: In diesem Zusammenhang wird insbesondere Artikel 100 der spanischen Handelsregisterordnung (sowohl für die Aktiengesellschaft als auch die Gesellschaft mit beschränkter Haftung sowie im Hinblick auf beide Gesellschaftsorgane) genannt sowie Artikel 189 LSC für Aktiengesellschaften und die Regelung der DGRN vom 8. Januar 2018 für Gesellschaften mit beschränkter Haftung.
Diese Kriterien, Entscheidungen und Regelungen leiten sich aus der Notwendigkeit ab, das „tägliche Leben“ eines Unternehmens in einer zunehmend globalisierten und komplexen Welt flexibler zu gestalten. Dies vor dem Hintergrund, dass stetige Veränderungen die Gesellschaften mit Situationen konfrontieren, die eine gewisse Beweglichkeit erfordern, so dass angemessene Regeln zu finden sind, die den konkreten Bedürfnissen der Gesellschaften gerecht werden. Dies jedoch unter der Voraussetzung, dass dies auf dem autonomen Willen der Gesellschafter beruht, welche entsprechende Vereinbarungen und Bedingungen in der Satzung festlegen können, solange keine ausdrücklichen gesetzlichen Bestimmungen/Verbote entgegenstehen.
Christian Krause
Partner. Bereich Corporate M&A